"Einem Mann wäre das so nicht passiert"

2023, im Europäischen Parlament. Ich bin mit einem Kollegen im Ausschuss verabredet. Ein langes Gespräch, es ist eine schwierige Situation, ich bin gut vorbereitet, und wir kommen überein, so vorzugehen wie von mir vorgeschlagen. Am Ende der Besprechung ein mehr als seltsamer Moment: Er streichelt mir über den Kopf – als müsse er die „natürliche“ Rangordnung auf diese Weise wiederherstellen.

von Hannah Neumann, MdEP

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2022, auf Delegationsreise in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ich leite die Delegation, und wir sitzen mit Botschaftern und anderen Würdenträgern beim Abendessen. Ein Mitglied der Delegation kneift mir während eines informellen Gesprächs am Tisch in die Wange, als wäre er meine Oma. Als ich ihn frage, ob er das bei einem männlichen Kollegen auch gemacht hätte, ist ihm die Situation sichtlich peinlich.

2020, in den Sozialen Medien: Die AfD-Delegation im Europaparlament zitiert mich falsch und behauptet, ich würde „2000 IS-Terroristen nach Europa“ holen wollen (gemeint waren u.a. Familienangehörige von IS Kämpfern, also Frauen und Kinder aus Lagern in Nordysrien: für meine Forderung gibt es gute Gründe und natürlich setze ich mich dafür ein, dass den rückgeholten Personen gegebenenfalls der Prozess gemacht wird). Dies wird von einem AfD-Bundestagsabgeordneten und einem AfD-Kreisverband aufgegriffen, der zum Shitstorm gegen mich aufruft. Der kommt auch – inklusive wüster Beschimpfungen, Aufrufen, mir die „Corona-Todesspritze“ zu geben oder Kommentaren wie „Soll erstmal Testen was SIE erwartet. Da gibt es nur eins Beine Breit machen. Aber vllt. braucht die das auch.“

Was all diese Vorkommnisse miteinander zu tun haben? Ich bin mir sicher: Einem Mann wäre das so nicht passiert.

„Aber stopp mal“, werden da viele jetzt vielleicht sagen: ein hasserfüllter Kommentar und ein Streicheln über den Kopf – sind das nicht zwei grundverschiedene Dinge? Ich meine: Ja und nein. Denn alle diese Handlungen gehen auf ein- und denselben Wunsch zurück: Eine Frau kleinzumachen, ihr „ihren Platz“ zuzuweisen, sie mundtot zu machen. Die dahinterstehende Haltung: Eine Frau hat in der Politik nichts zu suchen.

Wichtig ist, nicht zu kneifen

Sexismus gegen Politikerinnen bis hin zum Frauenhass ist ein globales Problem, und je mehr Frauen in die Politik strömen, desto sichtbarer wird es. Gleichzeitig macht Social Media Angriffe aus der (vermeintlichen) Anonymität heraus möglich, und oft sind diese Shitstorms gelenkt. Hier wird ganz deutlich: Da fühlen sich viele aus ihrer Machtposition gedrängt, verlieren ihre Privilegien und reagieren mit (verbaler) Gewalt. Als weiße, heterosexuelle Frau komme ich da sogar noch vergleichsweise gut weg. Ganz besonders stehen dagegen Frauen unter Beschuss, die zum Beispiel einen Migrationshintergrund haben, queer sind oder mit einer Behinderung leben.

Ich bin 2016 in die Politik gegangen, damals als Direktkandidatin für den Bundestag in Berlin-Lichtenberg, wo ich wohne. Ich wusste, dass man dieses Mandat nicht gewinnen kann, dass ich mit Anfeindungen auf den Sozialen Medien und im realen Leben rechnen muss. Und als Frau mit einer feministischen Agenda war mir klar, dass der Gegenwind noch einmal stärker ausfallen würde. Aber wichtiger war mir, aus Angst vor diesem Gegenwind nicht zu kneifen: Denn sonst hätten all die Hater schon gewonnen! Was man dabei aber nicht vergessen sollte: Politiker*innen haben alle ein soziales Umfeld. Und es ist eine Sache, eine Entscheidung für sich selbst zu treffen, und eine andere, wenn das Umfeld womöglich darunter leidet. Für mich war es deshalb enorm wichtig, diesen Schritt mit meinem Mann und meinen Kindern zu besprechen. Zum Glück steht meine Familie geschlossen hinter mir – aber ich weiß auch: Wenn sie angegriffen würden, dann wäre für mich eine rote Linie überschritten. Es ist schon eine absurde Situation: Ich bin in die Politik gegangen, weil ich nicht bereit bin, zu akzeptieren, dass wir so rassistisch, sexistisch, hasserfüllt miteinander umgehen. Und gleichzeitig muss ich all den Hass gegen mich immer wieder als „normal“ abtun, um ihn auszuhalten und den Job weiter machen zu können. Und ich bin damit nur eine von sehr, sehr vielen.

Was für mich aber keine Option ist: Mich aus den sozialen Medien oder der Politik insgesamt zurückzuziehen. Ich will Haltung zeigen und ich denke, dass die Menschen ein Anrecht darauf haben, zu erfahren, wofür ich arbeite. Gleichzeitig will ich als Außenpolitikerin auch Sprachrohr sein für diejenigen, die nicht wie wir das Glück haben, in einer Demokratie zu leben. Zu Beginn der Proteste im Iran im letzten Jahr zum Beispiel habe ich meine iranischen Follower*innen gefragt, was ihnen wichtig ist, wofür sie kämpfen – und die Antworten in eine Rede im Europäischen Parlament eingebaut.

Meinen Beruf an den Nagel hängen will ich schon gar nicht. Dafür macht er mir zu viel Spaß – und ich bin mir der großen Verantwortung bewusst, die die Politik mit sich bringt.

Unsere Demokratie braucht Diversität

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Was ist also der Ausweg? Für mich habe ich beschlossen: Ich will etwas ändern! Und das kann man auf vielfältige Weise:

Was Social Media angeht, arbeite ich seit mehreren Jahren erfolgreich mit HateAid zusammen, einer Organisation, die mithilfe von Anwält*innen Hass im Netz konsequent verfolgt. Die Geldstrafen, die so gerichtlich erwirkt werden, kommen dabei HateAid selbst zugute. Seit ich mich an HateAid gewandt habe, konnten so schon zahlreiche Personen, die mich beleidigt und bedroht hatten, zur Rechenschaft gezogen werden und mussten auch teils saftige Strafen zahlen. Und ich sage offen: Das verschafft mir Genugtuung. Denn so anonym, wie viele glauben, ist das Internet eben doch nicht, es ist kein rechtsfreier Raum!

In meinem Arbeitsumfeld setze ich währenddessen viel daran, Frauen und Diversität zu fördern. Gerade mein Fachgebiet, also die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ist oft noch sehr von weißen Männern beherrscht. Ich will, dass sich das ändert. So habe ich zum Beispiel den #SHEcurity-Index ins Leben gerufen, der in über hundert Ländern, in der EU und bei den Vereinten Nationalen den Frauenanteil im Bereich Frieden und Sicherheit misst. Der Index hat seit seinem Start im Jahr 2020 bereits viel bewirkt: Er hilft, Druck auf Entscheider*innen aufzubauen und zeigt auf, wo bereits Fortschritte gemacht wurden. Zudem sehe ich auch uns als EU in der Pflicht: Beim Thema Gleichberechtigung müssen wir selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Als Delegationsleiterin war ich zum Beispiel einmal in der Situation, dass ich bei einer Reise in ein arabisches Land die einzige Frau in der Delegation des Europaparlaments gewesen wäre. Ich habe darauf bestanden, dass mindestens eine andere Fraktion ebenfalls eine Frau schickt – und das hat auch geklappt.

Wenn junge Frauen, oder auch zum Beispiel Männer mit Migrationshintergrund, auf mich zukommen und mir sagen, dass sie sich gerne politischen engagieren möchten, dann will ich sie erst einmal ermutigen, denn Politik ist eine tolle Erfahrung in Sachen Selbstwirksamkeit und unsere Demokratie braucht Diversität. Bei allem Negativen, das einem entgegenschlägt, gibt es auch viele Erfolgsmomente: wie die Mutter, die mich in Lichtenberg an einer Ampel anspricht und mir sagt, dass sie meine Arbeit schätzt. Ihr wisst manchmal gar nicht, wie besonders solche Momente sind, gerade wenn man wieder einen harten Kampf irgendwo anders kämpft. Oder die Menschenrechtsverteidigerin, der ich mit einem Kontakt weiterhelfen kann. Und gleichzeitig ist es mir wichtig, ehrlich zu sein und klarzumachen, worauf man sich einstellen muss, wenn man politisch aktiv wird – leider eben auch sehr viel Hass. Und ich kann verstehen, dass das manchmal auch einfach zu viel ist und man eine Pause braucht. Selbstschutz und Solidarität sind sehr wichtig.

Manchmal ist es auch okay, wenn einem in der Situation nicht gleich die richtige Reaktion einfällt und man sich später etwas überlegt: Den Kollegen, der mich mit einem Kopfstreicheln verabschiedet hatte, habe ich beim nächsten Mal einfach mit Kopfstreicheln begrüßt. Ganz im Stil von Kyrie Irving.