Zum Tag der internationalen Strafjustiz

von Constanze Oehlrich

von Constanze Oehlrich

Constanze Oehlrich ist Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag Mecklenburg-Vorpommern sowie deren innen- und rechtspolitische Sprecherin. Sie hat von 2008 bis 2010 als Legal Advisor für die Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia gearbeitet.

Wird sich der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin eines Tages für den Ukraine-Krieg vor Gericht verantworten müssen? Wer sich aufmacht, diese Frage zu beantworten, stößt auf Lücken im internationalen Strafverfahrensrecht, die unbedingt geschlossen werden müssen.

„Straflosigkeit darf keine Option sein. Nirgendwo. Für niemanden,“ schreibt der Hohe Vertreter der Europäischen Union, Josep Borell, zum heutigen Tag der internationalen Strafjustiz. Angesichts der grundlosen und ungerechtfertigten militärischen Aggression Russlands gegenüber der Ukraine sei es wichtiger denn je, für eine regelbasierte internationale Ordnung einzutreten und für Rechenschaftspflicht zu sorgen.[1]

Mehr als 9.000 zivile Todesopfer haben die Vereinten Nationen seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges bis zum 30. Juni 2023 in der Ukraine registriert, darunter mehr als 500 Kinder. Fast 16.000 Menschen wurden verletzt. Am stärksten betroffen waren die Regionen Donezk, Charkiw, Kiew, Cherson, und Luhansk. Die UN zählen dabei nur die Fälle, die sich unabhängig überprüfen lassen. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.[2]

Das Europäische Parlament sieht in dem Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine einen offenkundigen und eklatanten Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen und die Grundprinzipien des Völkerrechts. In seiner Entschließung vom 19. Januar 2023 forderte das Parlament die EU und ihre Mitgliedstaaten daher dazu auf, in enger Zusammenarbeit mit der Ukraine und der internationalen Gemeinschaft, vorzugsweise über die Vereinten Nationen, auf die Einrichtung eines internationalen Sondergerichtshofs zu drängen, der das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine strafrechtlich verfolgt.[3]

Die Justizminister*innen des Bundes und der Länder haben diese Entschließung auf ihrer Frühjahrskonferenz am 25. und 26. Mai 2023 in Berlin begrüßt und die Bundesregierung darum gebeten, sich auf europäischer Ebene für die Einrichtung eines Gerichtshofs für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine einzusetzen. Durch die Einrichtung eines solchen Gerichtshofs könne eine Lücke im derzeitigen institutionellen Gefüge der internationalen Strafjustiz geschlossen werden.[4]

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Zuständig für die Verfolgung schwerster Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, ist der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Bei einem Aggressionsverbrechen ist die Zuständigkeit des IStGH allerdings faktisch auf Vertragsstaaten beschränkt. Soll der IStGH tätig werden, müssten also sowohl der Angreiferstaat, hier die Russische Föderation, als auch der Opferstaat, hier die Ukraine, Vertragsstaaten sein. Das ist allerdings nicht der Fall. „Der russische Angriffskrieg hat schmerzlich offengelegt, dass der IStGH bezüglich des Aggressionsverbrechens ein zahnloser Tiger ist“, meint der Völkerrechtler Kai Ambos.[5]

„Damit besteht die Gefahr, dass man sich eine Legitimitätsdebatte einfängt und das Tribunal seinem eigentlichen Auftrag – der Untersuchung und Aburteilung des russischen Angriffskriegs – nicht mit voller Konzentration wird nachgehen können. Es wird zunächst einmal seine Existenz verteidigen müssen, unter Umständen noch mehr als dies andere Sondertribunale, nicht zuletzt das UN-Jugoslawientribunal, tun mussten.“

„Jedenfalls erscheint es zumindest als ambivalentes Signal, wenn die gleichen (westlichen) Staaten, die zu den wichtigsten Unterstützern des IStGH gehören, darunter Deutschland, nun ein UkrTrib gründen wollen, statt ihre vereinten Kräfte auf den IStGH als den einzigen und eigentlichen, wenngleich reformbedürftigen24) Weltstrafgerichtshof zu konzentrieren.“

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Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag

Der Forderung nach einem Sondertribunal für die Ukraine kann Ambos dennoch wenig abgewinnen. Hauptproblem sei die Legitimität eines solchen Sondertribunals. Diese könne überhaupt nur durch die Einbindung der Vereinten Nationen erreicht werden. In Frage komme entweder eine Resolution der Generalversammlung, in der diese dem Generalsekretär nach dem Beispiel des Sondergerichtshofs für Sierra Leone die Errichtung eines Tribunals durch Abschluss eines bilateralen Vertrags mit der Ukraine empfiehlt. Oder die Vereinten Nationen und die Ukraine handeln nach dem Beispiel der Außerordentlichen Kammern in Kambodscha, ein bilaterales Abkommen aus, das dann der Generalversammlung zur Billigung vorgelegt wird.[6]

Für fast noch schwerwiegender halte ich aber ein anderes der von Ambos ins Feld geführten Argumente: Mitte März diesen Jahres hat der IStGH einen internationalen Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen.[7] Dabei geht es zwar nicht um das Verbrechen der Aggression, aber um Kriegsverbrechen, konkret die rechtswidrige Überführung ukrainischer Kinder nach Russland. Würde nun zusätzlich ein Sondertribunal für die Ukraine errichtet, müsste geklärt werden, in welchem Verhältnis das Sondertribunal und der Internationale Strafgerichtshof zueinander stehen.

Der Errichtung eines Sondertribunals vorzuziehen ist aus meiner Sicht der nun von Außenministerin Annalena Baerbock vorgelegte Vorschlag einer Stärkung des IStGH und eine Überarbeitung seines Statuts.[8] Zwar wirft der Verzicht auf das Vertragsstaatserfordernis beim Verbrechen der Aggression ebenfalls eine Reihe von Rechtsfragen auf. Auch wird es darauf ankommen, die erforderliche qualifizierte Mehrheit der Mitglieder der IStGH-Vertragsstaatenkonferenz zu erreichen. Doch der Einsatz lohnt sich. Straflosigkeit darf keine Option sein. Nirgendwo. Für niemanden.

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