Im (Fall) Spiegel
Politische Ämter bringen es mit sich, dass alles was der/die Politiker*in tut – sei es im Amt oder im Privatleben – grundsätzlich nicht unbeobachtet bleibt. Im Gegenteil:
Hier ist das Private politisch, und zwar im besonderen Maße.
Wusste man früher maximal vom jeweiligen Bundeskanzler, wo er/sie seinen oder ihren Urlaub verbrachte, so blieb der Ferien-Verbleib der meisten (Staats-) Minister*innen in der Regel unbekannt.
von Anna Maria
Wer heute ein hochrangiges politisches Amt einnimmt, weiß dagegen, worauf sie/er sich einlässt: Wenig bis gar keine Freizeit, ständige Verfüg- und Erreichbarkeit, totale Transparenz dank Presse und (sozialer) Medien. Unter dem gnadenlos scharfen Objektiv der digitalen und sozialen Medien wird jedes private Detail öffentlich seziert und beurteilt.
Und das ist durchaus auch im Sinne der Demokratie:
Als Wähler*innen erwarten wir, dass die von uns gewählten Politiker*innen ihre Zeit vorbehaltlos in den Dienst ihres Amtes stellen und das, wofür sie stehen, auch privat leben. In der Praxis bedeutet meist eine 7-Tage-Woche mit 14 bis 16 Stunden Tagen. Für ein politisches Amt muss man/frau Opfer bringen. Schließlich werden sie doch gut genug bezahlt!
Dass ein plötzlich eintretender Katastrophenfall die ohnehin hohe Arbeitslast verdoppelt, ja verdreifacht – geschenkt.
Im Fall der ehemaligen rheinland-pfälzischen Ministerin für Klima, Umweltschutz, Energie und Mobilität, Anne Spiegel, ging es um einen Sommerurlaub in Südfrankreich. Hierfür gab die Ministerin den damals dringenden Erholungsbedarf für ihren von einem Schlaganfall geschwächten Mann und ihre Töchter nach langem Lockdown/Homeschooling an. Soweit, so nachvollziehbar.
Der Zeitpunkt der Reise hätte allerdings kaum schlechter sein können: Nur zehn Tage nach der großen Flutkatastrophe am Ahrtal, die zehntausende Menschen ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlage und 186 Menschen das Leben kostete, fuhr sie mit der Familie nach Südfrankreich. Ganze vier Wochen. Und was noch schwerer wog: Weder nahm sie an Videokonferenzen bzw. Lagebesprechungen teil noch kümmerte sie sich in anderer Form um die Organisation der Krisenbewältigung.
Insofern darf, ja muss die Öffentlichkeit fragen, warum ein*e Umweltminister*in dieser extrem wichtigen ersten Zeit nach der Katastrophe nicht erreichbar bzw. vor Ort war. Einerseits.
Andererseits: Welche Umstände und Schicksalsschläge uns im Leben treffen, können wir uns nicht aussuchen. Und den Zeitpunkt noch weniger. Schicksalsschläge und Krankheit (be-)treffen Otto-Normal-Menschen ebenso wie Politiker*innen. Kommen mehrere solcher Krisen und Schicksalsschläge zusammen, kann das jede*n an den Rand des Zusammenbruchs bringen.
Überforderung ist eine Realität, der wir uns in diesen Zeiten pausenloser Krisen alle stellen müssen.
Das Bild der überforderten Minister*in wurde durch Anne Spiegels – zunehmend verzweifeltere – Versuche, ihren Urlaub zu entschuldigen und zu erklären nur immer deutlicher. Doch genau darin gleicht sie uns normalen Menschen: Nicht perfekt, omnipräsent und immer eloquent, sondern verzweifelt um Contenance bemüht.
Fraglos zeigten ihre Versuche das öffentliche Bild der desinteressierten Minister*in wiederherzustellen auch die Fehler einer politischen (Vermarktungs-)Kultur, die auf ein perfektes mediales Bild abzielt. Und ebenso klar zeigten sie, dass Glaubhaftigkeit auch Konsequenz im Handeln verlangt: Wer zuerst seinen dringend benötigten privaten Freiraum beansprucht, kann sich nach so einer gesellschaftlichen und persönlichen Katastrophe nicht auf ein zweites, noch höheres und verantwortungsvolleres, Amt einlassen, ohne unglaubwürdig zu wirken.
Anne Spiegel war weder den Wähler*innen, noch sich selbst und der Familie gegenüber ehrlich, denn ein ehrlicher Umgang mit Krankheit und Schicksalsschlägen wäre gewesen, klar zu kommunizieren, dass sie im Moment Zeit für die Familie brauchte. Und auch die Konsequenz zu ziehen und das Amt gegebenenfalls ruhen zu lassen.
Spätestens als der Urlaub und ihre (falschen) Angaben dazu offenbar wurden, hätte sie die Reißleine ziehen und zugeben müssen, dass ihr Fehler unterlaufen sind. Zur Menschlichkeit und politischen Transparenz gehört auch das. Und vielleicht hätte genau das auch den Wähler*innen gezeigt, wie schwierig es sein kann, ein Amt zu bekleiden, wenn man als Mensch vollkommen ge- bzw. überfordert ist.
Seien wir ehrlich. Alle Menschen benötigen unabhängig vom ausgeübten Beruf oder Amt einen privaten Freiraum.
Brauchen nicht auch gerade Menschen in solch extrem verantwortungsvollen Rollen Zeit zur Erholung?
Warum haben wir ein Bild im Kopf, dass Politiker*innen fast übermenschliche Kräfte haben? Und warum wird gerade bei weiblichen Politiker*innen gern oft und ausführlich medial erörtert, wie sie denn Familie und Kinderbetreuung mit ihrem Amt vereinbaren können? Partnerschaft und Familie sind nicht einfach ‚Hemmschuhe‘ oder ‚Stolpersteine‘, die einem politischen Amt im Weg stehen, nichts was man/frau einfach wegschiebt. Sie sind auch für Politiker*innen dringend notwendige Anker – auch und gerade in Krisenzeiten.
Warum verlangen wir also, dass Politiker*innen quasi wie Superheld*innen daherkommen mögen? Pausenlos im Dienst der Allgemeinheit, ohne Schlaf- und Ruhebedürfnis, immer auf Abruf?
(Vermeintliche) Vorbilder wie das einer Angela Merkel die in ihrer 16-jährigen Amtszeit nie aus gesundheitlichen oder privaten Gründen verhindert war oder eine Auszeit nehmen mussten, suggerieren, ‚dass es ja geht‘. Herr Professor Sauer wurde, meines Wissens nach, auch nie gefragt, wie es ihm persönlich denn in der Amtszeit seiner Frau ergangen ist.
Gerade Politiker*innen werden im medialen Spiegel anders wahrgenommen, dargestellt und beurteilt. In den Medien wurde nicht nur – und zu Recht – diskutiert, warum Frau Spiegel so sehr auf ihr Image bedacht war, dass sie sich zum Lügen genötigt sah.
Vielmehr wurde über die Vereinbarkeit von Familie/Kindererziehung und Amt diskutiert. Nur:
Warum wird diese Frage (fast) nie männlichen Politikern gestellt? Sind präsente Väter für die Entwicklung der Kinder nicht ebenso wichtig?
Mit Grausen erinnere ich mich der seltsamen Artikel, die bewunderungsvoll dem Mann von Annalena Baerbock und seiner ‚Opferbereitschaft‘ in puncto Kindererziehung huldigten…Als wäre letzteres quasi eine Strafe.
Die implizite Frage, die immer mitschwang, lautete:
Können Frauen überhaupt ein politisches Amt übernehmen, wenn sie Familie haben?
Oder sind sie letztlich doch ‚unzuverlässig‘, wie der Fall Spiegel fatalerweise suggeriert?
Diese biologistisch-deterministischen Sichtweisen verfestigen nur überkommene Rollenbilder. Und lenken von dem ab, was eigentlich gebraucht wird: Eine neue Rollendefinition des politischen Amts. Warum müssen wir den Nimbus des/der Super-politiker*in ohne Fehl- und Freizeit weiter pflegen?
Solange diese überkommene Vorstellung von Amtserfüllung in unseren Köpfen verankert bleibt, so lange werden Menschen, die wirklich etwas bewegen und verändern wollen, politischen Ämtern – insbesondere jenen von nationaler Bedeutung – tunlichst fern bleiben, während jene, die ihr Leben gern dem Rampenlicht widmen und vielleicht auch ein gesteigertes Geltungsbedürfnis haben, äußerst gern politische Ämter bekleiden.
Es muss uns gelingen, Politik neu zu denken – ja Beruf und Partnerschaft/Familie neu zu denken.
Beides macht einen Menschen. Wir müssen uns nicht entscheiden. Zeit also, neue Rollenbilder zu prägen! Warum können Ämter nicht von zwei Personen bekleidet werden, die einander im Notfall vertreten? Oder warum gibt es keine Wechselmodelle?
Das sollte unser Ziel sein:
Politik für Menschen. Menschen für Politik. Wir alle können nur gewinnen.