Der Wandel ist weiblich

Wandel. Was für ein Wort. Wir sehnen uns danach.

Wir hoffen darauf, dass alles besser wird. Wandel geschieht ständig, doch selten scheint er so schnell vonstatten zu gehen wie heute. Nichts scheint mehr klar. Alle Sicherheiten sind über Bord geworfen worden.

von Anna Maria

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Doch in welche Richtung wandelt sich die Welt? Auf der einen Seite zeigt der Iran, dass selbst isolierte Diktaturen durch den Mut und die unendliche Beharrlichkeit ihrer Bürger*innen geschwächt und vielleicht sogar beendet werden können. Hier sind es Frauen, die den Stein ins Rollen und das Weltbild der Mullahs ins Wanken gebracht haben. Sie heben ihren Schleier – mitten auf der Straße – und zeigen damit dem Regime, was sie von ihm und seinen Regeln halten.

Der unendliche Mut der für so scheinbar einfache Dinge erforderlich ist, zumal wenn die unmittelbare Verhaftung, die Folter und der Tod drohen, ist für Europäer*innen kaum wirklich nachfühlbar. Und doch tun sie es. Es sind hunderte, tausende Frauen und Mädchen, oft Teenager, die diese Revolution tragen. Sie sind Anlass für große Hoffnungen und tragen der iranischen Bevölkerung große Sympathien in aller Welt ein. Wenn dieses Regime fällt, dann dank der mutigen Iraner*innen.

Gleichzeitig zeigt die Erosion der demokratischen Kräfte in Europa und Nordamerika, dass der Wandel auch in die Gegenrichtung führen kann, hin zu Unsicherheit, Angst – und nicht zuletzt zu nationalistischen, faschistischen und populistischen Parteien.

Die letzten Wochen und Monate haben uns Europäer*innen die Grenzen der Demokratie gezeigt

Der politische Rechtsruck in Italien, Schweden und Israel belegt in aller Klarheit, dass Demokratien alles andere als krisenfest sind. Im Gegenteil scheint es, dass je fragiler die Stabilität unserer Bündnisse und je schlechter die allgemeine wirtschaftliche Lage, desto mehr verfangen einfache, populistische Ideen und rechtes Gedankengut.

Das Ausmaß der Krisen, die gerade Europa und die Welt erschüttern, lässt uns erschauern. Insofern scheint es vielleicht kaum verwunderlich, dass mehr und mehr Menschen Halt in einfachen Botschaften suchen.
Und diese Sehnsucht wird schon längst nicht mehr nur von alten weißen Männern bedient:

Es sind immer öfter auch Frauen, die den Rechtsruck nicht nur mittragen, sondern ihn politisch mitgestalten

Ein herausragendes Beispiel hierfür ist zweifellos Georgia Meloni. Anders als zum Beispiel der Chef der ‚Popolo delle Libertà‘ (ehemals ‚Forza Italia‘), Silvio Berlusconi, hat sie über zwei Jahrzehnte gebraucht, um eine lange obsolet scheinende, faschistische Partei – die ‚Fratelli d’Italia‘ (‘Brüder Italiens’) bzw. ehemals ‚Alleanza Nazionale‘ (Nationale Allianz’)– zu erneuern und zum Sieg über ein zerrüttetes politisches Systems zu führen und schließlich die erste Ministerpräsidentin Italiens zu werden.

Obgleich ein Kind aus sehr einfachen Verhältnissen, aufgewachsen in einem der ärmsten Randbezirke Roms – Garbatella – schloss sie sich bereits als junges Mädchen der faschistischen Jugend an und arbeitete sich systematisch an die Spitze einer durchweg von alten Männern dominierten Partei.

Hätten die ‚Fratelli d’Italia‘ und ihr rechtes Bündnis auch mit einem Mann an ihrer Spitze gesiegt? Möglich.

Aber die Tatsache, dass es eine relativ junge, sehr weltgewandt und souverän wirkende Frau ist, die hier auftritt, hat zweifellos viel dazu beigetragen, die Bedenken all jener Wähler*innen zu zerstreuen, die bisher bürgerlich, liberal oder gar links gewählt haben. Und genau aus diesem breiten bürgerlichen Spektrum haben die ‚Fratelli d’Italia‘ die meisten ihrer Neuwähler*innen gewonnen. Ohne ihre Stimmen wäre der Sieg bei den Wahlen nicht möglich gewesen.

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Meloni hat dem Faschismus somit ein neues, menschliches – ja gar freundliches – Gesicht gegeben

Eines, dem offenbar nur wenige Wähler*innen zutrauen, die Misswirtschaft vorheriger Populisten vom Schlage eines Silvio Berlusconi oder Beppe Grillo fortzusetzen. Meloni verkörpert also einen Neuanfang, der eigentlich kein Neuanfang ist, denn die Ideen der ‚Fratelli‘ sind altbekannt: Senkung der Steuern, Begrenzung und Illegalisierung der Einwanderung und ein Bekenntnis zum Katholizismus und der Heteronormativität: Nur Frau und Mann werden als legitime Partner erachtet. Rückwärtsgewandter geht es kaum.

Nach ihrem Wahlsieg bemühte sich Meloni zwar sogleich, sich als überzeugte Europäer*in zu verkaufen, dennoch bleibt fraglich, inwiefern Italien die europäische Integrität unterstützen wird, zumal wenn ihr Bündnispartner, die ‚Popolo delle Libertà‘2 und ihr Chef Berlusconi bekennende Putin-Fans sind.

Der Blick gen Norden stimmt dagegen zunächst optimistisch: Die jüngste Wahl in Dänemark belegt, dass sozialdemokratische Parteien in Europa durchaus noch sehr hohe Stimmanteile erhalten können. Doch das ist nur der erste Blick.

Stellen wir die Linse etwas schärfer, wird das Bild differenzierter

Zunächst einmal hat Premierministerin Mette Frederiksen, Chefin der Sozialdemokratischen Partei, bereits klargemacht, dass sie ein Bündnis „über den politischen Graben“, das heißt, mit und nicht gegen die rechten und konservativen Kräften in Dänemark anstrebt. Dies tut sie zum Einen ganz klar, um eine politisch handlungsfähige Mehrheit im ‚folketing‘, im Parlament also, sicherzustellen denn die Vielparteienlandschaft in Dänemark basiert auf Blöcken, nämlich einem linken ‚roten‘ Block und einem rechten, ‚blauen‘ Block. Zu letzterem zählt auch die `Dansk Folkeparti`, jene ultrarechte Partei, die von der ehemaligen Integrationsministerin Inger Stojberg gegründet wurde. Zwar hat sie im Vergleich zur letzten Wahl ganze 6,2% der Stimmen verloren, jedoch lässt sich dies nicht schlicht auf zufriedene Wähler*innen, bzw. eine optimistischere Stimmung im Land zurückführen.

Dänemark hat bereits seit langem ein äußerst restriktives Einwanderungsgesetz

Defacto gibt es keine Immigration nach Dänemark. Diese Null-Einwanderungs-Politik hat den rechten Parteien offenbar viel Wind aus den Segeln genommen. Dennoch kamen die ‚Dansk Folkeparti‘ und die ‚Nye Borgerlige‘, also die ‚Neuen Bürgerlichen‘, die ebenfalls zum rechten Spektrum gehören, zusammen immerhin auf 6,3% der Stimmen (siehe hier – Stand 5.11.22)) und zogen somit ins Parlament ein. Auch die ‚Neuen Bürgerlichen‘ werden von einer jungen Frau – Pernille Vermund – an der Parteispitze geführt. Wie kommt es, dass ausgerechnet die populistisch-nationalistischen Parteien im vermeintlich fortschrittlichen Dänemark von jungen Frauen geführt werden?

Betrachtet man die dänischen Wahlen vor diesem Hintergrund, ergibt sich ein deutlich realistischeres Bild, in dem die Rechten nicht etwa weiter an den Rand gedrängt werden, sondern deren ‚Markenkern‘ vielmehr in die politische Mitte gewandert ist.

Und in diesem Prozess sind Frauen als tragende Figuren maßgeblich gewesen

Aber richten wir den Blick doch einmal nach innen: Lassen sich vielleicht Parallelen zu Deutschland ziehen? Ist es Zufall, dass die AfD als Partei in medialen Debatten und vor allem in Talkrunden sowie in den sozialen Medien auch und vor allem von Alice Weidel repräsentiert wird? Auch sie ist, gerade im Vergleich zu den Repräsentanten der großen (Regierungs-)Parteien, vergleichsweise jung und zeichnet sich – wie Giorgia Meloni – durch enorme Eloquenz und große Medienkompetenz aus.

Emanzipierte, gebildete und erfolgreiche Frauen stehen hier für Konservatismus, Nationalismus und Faschismus

Es scheint wie ein Paradoxon – und ist doch keines. Denn ihr Erfolg ist eng mit ihrer Identität als modernes, präsentables ‚Aushängeschild‘ verbunden. Hier haben die Rechten eigentlich nur ‚nachgezogen‘ und sich zum Schein modernisiert. Denn was könnte die Bürgerlichkeit und Modernität einer Partei besser repräsentieren als freundliche, in keiner Weise bedrohlich wirkende, junge und attraktive Frauen? Wie zum Hohn karikieren sie das Selbstbild moderner Frauen und propagieren die christlichen Werte der Ehe zwischen Mann und Frau.

Frauen bewirken also nicht nur positiven politischen Wandel

Dies festzustellen scheint müßig, aber es ist wichtig, denn letztlich sind Frauen – und alle anderen innerhalb oder jenseits des Mann-Frau-Spektrums – ebenso fehlbar wie Männer. Und sie können ebenso politisch vereinnahmt werden.

Erst wenn diese Erkenntnis wirklich gereift ist, kann es Veränderung jenseits von Rollenerwartungen und -bildern geben und politische Akteur*innen als das bewertet werden, wofür sie politisch stehen, und nicht als das, was sie per Geschlecht sind.

Wir sollten endlich hinaussehen über den Horizont von Geschlecht und Gender und danach urteilen, was wirklich dahinter steht.