Der Antisemitismus war nie weg

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von Ole Krüger

Ole ist seit 2020 unser Landesvorsitzender. Er ist Geisteswissenschaftler und lebt mit seiner Familie in Rostock. Nach seinem Magister-Abschluss hat er mehrere Jahre als Geschäftsführer für den Landesverband gearbeitet. Er engagiert sich gegen Rechtsradikalismus und für ein weltoffenes, buntes Mecklenburg-Vorpommern.

Gedanken zum 9. November und zur Judenfeindlichkeit in der DDR

Vor 85 Jahren – am 9. November 1938 – brannten in ganz Deutschland die Synagogen. In Brand gesteckt von einem wütenden Mob, der, aufgestachelt durch die Nationalsozialisten, den jüdischen Mitbürger*innen die Schuld an der eigenen, aber auch an der weltpolitischen Lage gab. Die antisemitische Propaganda der NS-Verbrecher war jedoch keine Erfindung der Nazis. Vielmehr griffen sie antisemitische Stereotype und Verschwörungserzählungen auf, die über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte in der Bevölkerung unreflektiert kolportiert, an Stammtischen weitererzählt, an Küchentischen von Eltern an Kinder weitergegeben wurden. All dies endete in der Shoa, der millionenfachen Deportation und industriellen Ermordung von 6 Millionen europäischen Juden. Die Pogromnacht vom 9. November war nur der Auftakt zu einem beispiellosen millionenfachen Massenmord und der Vertreibung Abertausender. Die große Lehre, die wir im wiedervereinigten Deutschland gemeinsam gezogen haben, war und ist: „Nie wieder!
Und doch … obwohl die Solidarität mit Israel und den jüdischen Gemeinden im ganzen Land ein breiter gesellschaftlicher Konsens zu sein scheint, erleben wir seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, dass sich Jüdinnen und Juden auf unseren Straßen nicht mehr sicher fühlen. Einige Parteien haben Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge aus muslimischen Ländern als Schuldige ausgemacht und der aktuellen Zuwanderungsdebatte eine weitere fremdenfeindliche Facette hinzugefügt. Getreu dem Motto: „Die Bösen sind die Ausländer! Wir haben unsere Lektion gelernt“.

Antisemitismus – ein Re-Import aus der arabischen Welt?

An dieser Stelle wäre es bequem, die Debatte zu beenden. Die Schuldigen sind gefunden und müssen nun verfolgt, bestraft, ausgewiesen, besser noch: gar nicht erst ins Land gelassen werden.

Aber war Deutschland, war unsere Gesellschaft jemals wirklich frei von antisemitischen Vorstellungen und Klischees? Oder wollten wir das alle nur glauben, um endlich einen Schlussstrich unter die unangenehme Aufarbeitung des Nationalsozialismus ziehen zu können?

Im Rahmen einer Beteiligungskonferenz trafen sich am 26. Oktober in Schwerin 70 Vertreter*innen der jüdischen Gemeinden, der politischen Bildung, von Gedenkstätten, der Justiz sowie Historiker*innen und Politiker*innen. Sie forderten einen Landesaktionsplan gegen Antisemitismus“. Denn: Trotz aller Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gräueltaten beklagten sie, dass es hierzulande immer noch viel Unwissenheit über das Judentum gebe. Es fehle an Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden, und auch die Einladungen an Schulen seien über die Jahre immer weniger geworden. Zwar versicherten Landtagspräsidentin Birgit Hesse und Kultusministerin Bettina Martin (beide SPD), dass der Schutz jüdischen Lebens für die Landesregierung oberste Priorität habe, doch seien Bekenntnisse ohne konkrete Maßnahmen reine Symbolpolitik, die das Problem nicht an der Wurzel packe. An Angeboten für die nichtjüdische Bevölkerung mangelt es jedenfalls nicht. In Rostock finden jährlich jüdische Kulturtage statt und erst 2021 fand das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ mit zahlreichen Veranstaltungen statt. Niemand wird ernsthaft behaupten können, dass er oder sie durch muslimische Zuwanderer an der Teilnahme gehindert wird. Und auch die Kriminalstatistik ist eindeutig. 84 Prozent der antisemitischen Straftaten sind der politisch rechts motivierten Kriminalität zuzurechnen. Ausländer- oder „religiös motivierte“ Taten machen im Vergleich dazu nur 4% aus. Damit will ich kein Problem kleinreden, das ohne Zweifel gelöst werden muss. Aber ich möchte deutlich machen, dass wir uns die Relationen nicht verzerren lassen dürfen. Antisemitische Einstellungen, Verschwörungserzählungen und Stereotype sind seit jeher Teil unserer Gesellschaft.

Wenn Antisemitismus also kein Re-Import ist? Wie konnte er dann gerade in Mecklenburg-Vorpommern und den anderen ehemaligen DDR-Gebieten 40 Jahre antifaschistischer SED-Herrschaft überleben? Die Antwort ist einfach. Die SED war selbst nicht frei von judenfeindlichen Vorurteilen, ja sie verstärkte antisemitische Verschwörungserzählungen, indem sie sie in ihr ideologisches Selbstbild als „Bollwerk gegen den kapitalistischen Imperialismus“ integrierte.

statista Grafik Antisemitismus
Die Statista-Grafik zeigt die Anzahl der polizeilich erfassten antisemitischen Delikte in Deutschland.
Die Aufarbeitung des Holocaust in West und Ost

Umfragen, die zwischen 1946 und 1950 in Westdeutschland erhoben wurden, zeigen, dass ein Drittel der Bevölkerung „extrem antisemitisch“, ein weiteres Drittel „bedingt antisemitisch“ eingestellt war. Für Ostdeutschland gibt es solche Umfragen nicht, aber kurz nach dem Krieg dürfte auch bei uns die Einstellungsmuster nicht grundsätzlich anders ausgesehen haben. Auch bei uns im Land wurden immer wieder jüdische Friedhöfe verwüstet. Nur ist über diese in den Staatsmedien nicht berichtet worden und somit sind diese Schändungen auch nie in der sozialistischen Bevölkerung besprochen und diskutiert worden.

In der Bonner Republik mit ihrer unabhängigen Justiz und freien Medienlandschaft war ein viel offener Umgang mit dem Thema möglich. So gab es ab 1963 die sogenannten „Frankfurter Ausschwitzprozesse“ die medial stark begleitet wurden und somit auch eine gesamte Nachkriegsgeneration nicht nur über die Vorgänge in den NS-Konzentrationslagern aufklärte, sondern auch eine breite gesellschaftliche Aufarbeitung in westdeutschen Familien den Weg ebnete. Die „68er-Generation“ hat mit ihrer kritischen Grundhaltung nach der Verantwortung der „einfachen Bevölkerung“ an den NS-Gräueltaten gefragt und dadurch einen Diskurs angestoßen, der die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft maßgeblich verändert. Dieser Diskurs und Auseinandersetzungsprozess war nie zum Abschluss gebracht, sondern war vielmehr ein kontinuierlicher Prozess. So wurde z.B. 1979 wurde die US-amerikanische Serie „Holocaust“ im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt, was zu einem bedeutenden Medienereignis wurde und erneut heftige öffentliche Diskussionen auslöste. Im Anschluss an die einzelnen Folgen wurden „Open-End-Diskussionen“ ausgestrahlt, in denen sich das Publikum telefonisch zu Wort melden konnte. Die Redaktion wurde über 23.000-mal kontaktiert. Die Ausstrahlung war so umstritten, dass es im Vorfeld sogar zu Bombenanschlägen rechtsextremer Terroristen kam. Um eine Ausstrahlung der einführenden Dokumentation „Endlösung“ zu verhindern, sprengten Peter Naumann, später bis zu seinem Tod Politiker der NPD, und zwei Komplizen zwei Sendemasten der ARD und störten damit den Empfang von circa hunderttausend Fernsehgeräte. Dennoch sahen rund Zwanzig Millionen Zuschauer mindestens eine „Holocaust“-Folge an den vier Sendetagen.

Auch in der DDR war der Film ein wichtiges Medium der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Bereits 1974 wurde der Roman „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker verfilmt, der die jüdische Perspektive in den Mittelpunkt stellt. Die Verfilmung erhielt zahlreiche internationale Filmpreise und sogar eine Oscar-Nominierung. Vorausgegangen war allerdings ein langer Kampf um die notwendige staatliche Filmförderung. Er wurde zu einem Prestigeerfolg für die DDR, war aber nicht „von oben“ geplant oder gar Teil einer staatlichen Aufarbeitungsinitiative.

Ein weiterer wichtiger Bereich der Aufarbeitung war und ist der Schulunterricht. Der Historiker Bodo von Borries verglich die Aufarbeitung der NS-Zeit in west- und ostdeutschen Schulbüchern. In beiden Systemen wurde in den Nachkriegsjahren die Hauptverantwortung für den Vernichtungskrieg den hochrangigen Nationalsozialisten zugeschrieben. Die Bevölkerung, vor allem die niederen Soldaten, wurden als unschuldig dargestellt. In beiden Bildungssystemen spielte der Holocaust in den 50er Jahren kaum oder gar keine Rolle. Erst mit dem politischen Aufbruch der 68er-Generation änderte sich dies und die „Nürnberger Rassegesetze“, die „Reichspogromnacht“ und die industrielle Ermordung der Juden und Jüdinnen wurden zunehmend im Unterricht thematisiert. Im Unterricht der DDR hingegen fand diese Entwicklung nicht statt. Dort richtete sich die Verfolgung und Vernichtung des NS-Regimes bis zuletzt fast ausschließlich gegen kommunistische und sozialistische Widerstandskämpfer. Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg wurde bis zum Ende der DDR als Folge des Kapitalismus und die Staatsgründung der DDR als völliger Bruch mit der nationalsozialistischen Ideologie vermittelt.

Die Aufarbeitung fand natürlich auch in den historischen Gedenkstätten statt. Ab Ende der 1950er Jahre wurden in beiden deutschen Staaten ehemalige Konzentrationslager in Gedenkstätten umgewandelt. Vorreiter war die DDR. Zudem war der Besuch eines Konzentrationslagers für die Schüler*innen in Ost-, nicht aber in Westdeutschland verpflichtend. Allerdings war die Gedenkstättenarbeit inhaltlich nicht unabhängig von der SED-Doktrin, sondern stark in diese eingebunden. Mit anderen Worten: Die Gedenkstätten warnten eher vor der westdeutschen „faschistischen“ Bedrohung, als dass sie ihre pädagogische Arbeit dem Gedenken an die jüdischen Opfer widmeten.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die fehlende offene Auseinandersetzung mit der NS-Zeit führte dazu, dass gesellschaftliche Umbrüche wie in Westdeutschland ausblieben. Selbst gegen Ende der DDR wurde die Existenz einer Neonazi-Szene schlichtweg geleugnet und als „Rowdytum“ verharmlost. Der Grundstein für die „Schlägerjahre“ der 1990er Jahre wurde bereits in der DDR gelegt.

Antisemitismus als Teil der SED-Politik Anfang der 50er Jahre

Je mehr sich Israel dem „Westblock“ zuwandte, desto stärker wurde die Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Stalins Russland. Als „wurzellose Kosmopoliten“ gebrandmarkt, wurden zahlreiche jiddische Schriftsteller inhaftiert und oft hingerichtet, jüdische Theater und Zeitungen geschlossen, jüdische Autoren aus den Bibliotheken verbannt, und selbst die Ehefrau von Stalins engem Vertrauten Molotow entkam dem Gefängnis nicht, weil sie jüdischer Herkunft war. Alles Jüdische wurde unterdrückt, um eine angebliche „zionistische Verschwörung“ zu unterdrücken. Diese Kampagne wurde auch auf die damaligen Satellitenstaaten ausgeweitet. So übernahm auch das Zentralkomitee (ZK) die russische Terminologie, etwa wenn ZK-Mitglied Ernst Hoffmann in der Monatszeitschrift „Einheit der SED“ von „bürgerlichen Kosmopoliten“ als „Geldmenschen“ und „vaterlandslosen Gesellen“ sprach. Es folgte Anfang der 50er Jahre die Überprüfung der Kaderakten aller Parteimitglieder jüdischer Herkunft. Zahlreiche Mitarbeiter der Stadt- und Kreisverwaltungen wurden entlassen. Den jüdischen Gemeinden wurden kulturelle Veranstaltungen verboten, ihre Büros durchsucht, die Gemeindevorsitzenden verhört und gezwungen, Listen aller Gemeindemitglieder herauszugeben. Über 400 Juden – darunter fünf der insgesamt acht Gemeindevorsitzenden – flohen aus der DDR. Heute wissen wir auch, dass in der DDR ein Schauprozess mit antisemitischem Charakter nach russischem Vorbild vorbereitet wurde. Nur Stalins Tod 1953 kam dem zuvor und beendete die „antizionistische“ Politik der SED.

Doch Paul Merker, bis 1950 Mitglied des Politbüros und des Zentralkomitees der SED, wurde noch 1955 vom Obersten Gericht der DDR zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. In der Urteilsbegründung hieß es, er habe „zionistische Tendenzen“ vertreten und „die Entschädigung jüdischer Kapitalisten“ propagiert. Damit wurde er als „zionistischer Agent“ gebrandmarkt, der an der „Ausplünderung Deutschlands“ und der „Verschiebung deutschen Volksvermögens“ zugunsten amerikanischer und „jüdischer Monopolkapitalisten“ gearbeitet habe. Der Grund dafür war schlicht, dass er sich als einziges Politbüromitglied für die Schaffung eines jüdischen Nationalstaates und die Rückgabe „arisierten“ Eigentums sowie Entschädigungszahlungen an jüdische Verfolgte ausgesprochen hatte. Zwar wurde er bereits 1956 entlassen und in einem Geheimprozess rehabilitiert, doch zeigt die Urteilsbegründung deutlich, dass antisemitische Verschwörungsnarrative nicht nur unreflektiert übernommen, sondern auch im Partei- und Justizapparat genutzt wurden.

Nach dem Tod Stalins bot die DDR den Jüdinnen und Juden im Vergleich zu den anderen sogenannten Ostblockstaaten die sichersten Lebensbedingungen, bot aber aus politischen Gründen keinen Nährboden für jüdisches Leben. Stattdessen fand man im Staat Israel ein neues Feindbild.

Israel – Feindbild der SED

Am 14. Mai 1948 proklamierte David Ben Gurion die Gründung des Staates Israel. Nur elf Minuten später erkannten die USA den neuen Staat an. Die Sowjetunion zwei Tage später. Wiederum zwei Tage später folgte die damalige Tschechoslowakei. Doch noch in derselben Nacht erklärten die israelischen Nachbarstaaten Ägypten, Saudi-Arabien, Transjordanien, Libanon, Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg. Vom ersten Tag der Staatsgründung an musste Israel sein Existenzrecht im „Unabhängigkeitskrieg“ verteidigen.

Im Laufe der Zeit orientierte sich der neue Staat immer mehr nach „Westen“. In der Logik des „Kalten Krieges“ gehörte er damit aus Sicht der damaligen kommunistischen Machthaber zum weltpolitischen Gegenlager. Was innenpolitisch die antijüdische Kampagne auslöste und außenpolitisch zu einer Kehrtwende führte. Die Sowjetunion wurde zum offenen Gegner Israels. Und kein anderer Ostblockstaat unterstützte die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) politisch, diplomatisch, finanziell und auch militärisch so stark wie die DDR. So wie die DDR-Propaganda sich und ihre sozialistischen Bruderstaaten als „antiimperialistisch“ verstand, brandmarkte sie die israelische Staatsgründung und den unmittelbar folgenden Unabhängigkeitskrieg gegen die arabischen Nachbarstaaten als „imperialistisch“ und als Teil eines weltweiten Klassenkonflikts. Erklärungen arabischer Führer, den Staat Israel vernichten und die Juden „ins Meer treiben“ zu wollen, sowie die blutigen Terroranschläge der PLO erfuhr die DDR-Bevölkerung nur aus dem „Westfernsehen“. In den DDR-Staatsmedien wurde Israel als „Brückenkopf“ und „Hauptwerkzeug des Weltimperialismus gegen die arabischen Völker“ diffamiert. Im SED-Leitmedium „Neues Deutschland“ wurde sogar kolportiert, Israel würde Bomben als Kugelschreiber und Spielzeug tarnen und gezielt über Ägypten abwerfen, um Kinder zu töten und so die Massensterilisation von Arabern zu planen. Ende der 1960er Jahre griff die SED-Propaganda das Verschwörungsnarrativ von der „jüdischen Weltverschwörung“ gezielt auf. Der „internationale Zionismus“ sei das „weitverzweigte Organisationssystem … der jüdischen Bourgeoisie“ und der „israelischen Finanzoligarchie“. Das „zionistische Finanzkapital“ beeinflusse die US-Regierung, verfüge über eine weltweite „zionistische Propagandamaschine“ und sei ständig an imperialistischen „Verschwörungen“ beteiligt. Auch dem Argument, die Gründung des Staates Israel sei eine direkte Folge des Massenmordes vor und während des Zweiten Weltkrieges, wurde mit einer bis heute populären Argumentation begegnet. „“Wir (lassen) uns … nicht erpressen, die uns mit dem heuchlerischen Gerede von irgendwelchen besonderen Beziehungen zwischen Juden und Deutschen kommen“. Ein „schuldbeladenes Gewissen“ sei „für die DDR (…) längst gegenstandslos geworden“. Im Klartext: Die deutsche Verantwortung für den Holocaust wurde nicht geleugnet, aber die SED lehnte jede Verantwortung gegenüber den Überlebenden ab. Die Staatsgründung der DDR sollte der „Schlussstrich“ unter eine Aufarbeitung sein, die in Ostdeutschland nach 1949 nie wirklich stattgefunden hat.

Als 1968 der „Sechstagekrieg“ ausbrach, griff das „Neue Deutschland“ sogar unverhohlen auf Nazi-Begriffe zurück und setzte Israel mit Nazi-Deutschland gleich. So titelte das Parteiorgan „Das ist Völkermord“. „Die israelische Wehrmacht“ habe einen Blitzkrieg entfesselt“ und ein Massenpogrom gegen die arabische Welt“ verübt. Sie zitiert den DDR-Staatschef Ulbricht, Israel wolle „ein Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg … ein ‚Protektorat Sinai‘ oder ein ‚Generalgouvernement Jordanien‘ errichten“. 1982, während des Libanonkrieges Israels, heißt es sogar: „Israel betreibt die Endlösung der Palästinafrage“. Damit umging die DDR-Propaganda plump und wortgewaltig nicht nur eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem komplizierten Nahostkonflikt, sondern stellte Israel als grausames Tätervolk auf eine Stufe mit Nazi-Deutschland.

Natürlich stand die Masse der DDR-Bevölkerung der SED-Propaganda kritisch gegenüber und nutzte die Möglichkeit, die politische Berichterstattung der DDR-Medien mit der im „Westen“ zu vergleichen. Kurzum: Auch in dieser Frage war die DDR-Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre weiter als die zur Selbstkritik unfähige SED. Dies zeigte sich am 12. April 1990, als sich alle Fraktionen der erstmals frei gewählten Volkskammer auf eine gemeinsame Erklärung einigten: „Wir bitten die Juden in aller Welt … um Vergebung für die Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land.

Was hat das mit uns heute zu tun?

Die Aufarbeitung der Verbrechen an den Jüd*innen ist kein abgeschlossener Zustand. Sie ist ein andauernder Prozess. Der Weg ist das Ziel. Antisemitische Klischees sind nie verschwunden, sie konnten „unter dem Radar“ ungebrochen weiterleben. Wenn wir das „Nie wieder!“ ernst nehmen, müssen wir uns ihnen stellen. Jeder für sich, alle gemeinsam. Und uns bewusst zu machen, dass sie auch in unserer DDR-Vergangenheit eine Rolle gespielt haben, ist ein erster, wenn auch für manche schmerzhafter Schritt. Gehen wir ihn gemeinsam.

Literaturtipps

  • Thomas Haury: Antisemitismus der Linken. Hamburg 2002
  • Thomas Haury: Die DDR und der Aggressorstaat Israel. In: Tribüne, Heft 173/2005, S. 202-215
  • Angelika Timm: Hammer, Sichel, Davidstern. Bonn 1997